Reise nach Kanada Fjorde, Fischer, Geisterdörfer auf Neufundland
Erst kamen die Wikinger, dann die Fischer: Neufundland bildete einst Europas Vorposten in Kanada. Heute ist die Insel einer der besten Spots, um Wale, Elche und Eisberge zu sehen. Eine Inseldurchquerung vom Atlantik bis zum Golf von St. Lorenz.Die Mundräuber lauern schon. Ohne einen einzigen Flügelschlag halten sich zwei Möwen über unserem Picknick in der Luft. Der stramme Ostwind bringt das hohe Gras über den Klippen zum Wogen und die kleinen Fahnen zum Flattern, die in der Wiese stecken. Kellner mit weißen Schürzen und Picknickkörben in der Hand eilen aus dem rot-weißen Leuchtturm von Ferryland und suchen nach der richtigen Fahne zu jeder Bestellung: Die Gäste dürfen ihren gewählten Platz wie Eroberer markieren. Familien, Paare, Freundesgruppen lagern auf Decken in der Wiese und genießen dick belegte Sandwiches, frischen Salat, Schokoladenkuchen. Die Lighthouse Picnics locken täglich Gäste aus Neufundlands Hauptstadt St. John’s auf die Avalon-Halbinsel, ein geselliges Happening, das mit Tourismus-Preisen überhäuft wurde. Dabei ging es Gründerin Jill Curran am Anfang nur darum, ihr Familienerbe zu bewahren: »Schon mein Urgroßvater war Wärter in dem Leuchtturm. Meine Großmutter wurde hier geboren.« Doch seit Beginn der 80er-Jahre stand das historische Gebäude leer und drohte abgerissen zu werden. Curran, die ihrer Heimat eigentlich schon den Rücken gekehrt hatte, beschloss vor 13 Jahren, den Turm zu retten: »Wir Neufundländer haben immer viel draußen gearbeitet und dort auch gegessen. Da - ran wollte ich anknüpfen.« Und so kocht und backt sie mit ihrem Team unter dem Leuchtturm. »Es gibt nicht einmal einen Wasseranschluss, wir müssen täglich Hunderte Liter herankarren«, sagt die Gastronomin.
St. John's, die bunteste Siedlung Kanadas
Currans Idee ist nur eine von vielen, die Neufundland in den letzten Jahren von einer armen Fischerinsel in einen Besuchermagneten verwandelt haben. »The Rock«, den Felsen, nennen die Einheimischen ihr raues Eiland, das zusammen mit Labrador eine Provinz bildet. Schroffe Kliffs im Wechsel mit kleinen Buchten formen die zerklüftete Küstenlinie. Im Frühsommer dümpeln hier gewaltige Eisberge vorüber, dazwischen tummeln sich Wale. Ausgangspunkt für eine Inseldurchquerung ist die Hauptstadt St. John’s, die wohl bunteste Siedlung in Kanada: Steile Straßen ziehen sich die Hänge oberhalb des Hafens hinauf, gesäumt von Holzhäusern in schrillen Farben von Zitronengelb über Karminrot bis Schokoladenbraun. »Woanders nennen sie es ‚Schindelhäuser‘. Wir sagen ‚Leinwand‘ dazu«, wirbt St. John’s für sich. Einst eingeführt zur Wiederbelebung der maroden Innenstadt, sind die Farben heute nicht mehr wegzudenken – ein weiteres Symptom für den rasanten Wandel auf der Insel.
Verlassene Fischerdörfer und Filmkulissen
»Als der Kabeljau ausblieb, mussten wir uns von einem Tag auf den anderen neue Jobs suchen«, sagt Bruce Miller. Der knorrige Neufundländer nimmt Besucher in seinem Motorboot mit zu Jahrzehnte alten Geisterdörfern. Die Autofahrt von der Hauptstadt zu Miller nach New Bonaventure führt zunächst über den Trans Canada Highway, der sich über 7.000 Kilometer quer durch ganz Kanada zieht. Auf der Strecke durch Wälder und vorbei an kleinen Seen findet das Auge nur wenig zum Festhalten – der Highway genießt nicht den Ruf einer Panaromastraße. Doch dann zweigt eine Landstraße nach Norden ab, schlängelt sich durch verlassene Weiler mit halb verfallenen Holzhäusern. Schlaglöcher poltern unter den Rädern. Kein Mensch ist zu sehen, kein Wagen kommt entgegen. »Vorsicht, Elche!« ruft es von den Schildern, doch keiner der riesigen Waldbewohner will sich blicken lassen – dabei wirbt Neufundland doch mit der höchsten Elchdichte in Amerika. Um die hufeisenförmige Bucht von New Bonaventure reihen sich verwitterte Bootsstege und alte Holzhütten. Hummerreusen liegen ordentlich gestapelt. Neufundland wie aus dem Bilderbuch! Doch der Schein trügt: »Die Bar dort drüben ist Kulisse«, sagt Bruce, und deutet auf einen urigen Holzbau. »Da wurde ›Die große Versuchung‹ gedreht.« Nicht der einzige Drehort auf unserer Bootstour – seit dem Erfolg von »Schiffsmeldungen« mit Kevin Spacey gibt sich Hollywood die Klinke in die Hand. Mit tuckerndem Außenborder steuert Bruce die Steilküste entlang: Felsnadeln stehen neben Zyklopensteinen, Flechten auf den Felsmauern leuchten in intensivem Rot. Unter dem Bug leuchtet das Meer smaragdgrün. Ein Minkwal lässt kurz seine Flosse sehen und mehrmals treiben feuerrote, fußballgroße Quallen vorbei. In einer Bucht stellt der einstige Fischer den Motor ab und zeigt auf die Reste einer Holzkirche. »Auch eine Filmkulisse?«, fragt jemand, doch dieser Bau ist echt. Bruce zückt ein altes Schwarzweißfoto von einem quirligen Dorf mit Fischerhäusern, Werften und einem Wald aus Schiffsmasten. »Ireland’s Eye war einmal die größte Siedlung hier«, sagt er. »Die Fischgründe waren fantastisch.«
Ehemalige Fischer als Nature Guides
Anfang der 90er-Jahre brach die Kabeljau- Population wegen Überfischung zusammen. Rund 30.000 Fischer wurden auf einen Schlag arbeitslos. Bis heute gilt ein totales Fangverbot. Dabei war der Fischreichtum immer legendär: Schon die Wikinger folgten den Schwärmen bis hierher. Neufundlands Fischer aber mussten sich neu erfinden: Sie sattelten um auf Walund Eisbergtouren und auf Hochseeangeln. Auf dem Rückweg zum Trans Canada Highway peitscht Regen gegen die Windschutzscheibe, dann folgt strahlender Sonnenschein, eine halbe Stunde später plötzlich ein heftiger Graupelschauer. Das Klima wird seinem Image gerecht – nicht umsonst heißt es: »Wenn Dir das Wetter auf Neufundland nicht gefällt, warte einfach zehn Minuten.« Der Highway taucht in den Terra Nova National Park, ein Meer aus Wald, gesprenkelt mit unzähligen kleinen Seen. Outdoor-Fans kom- men hierher zum Wandern und Paddeln, zum Angeln und für die Tierpirsch. Parkrangerin Megan Tilly führt uns am Ufer eines Meeresarms entlang, auf der Suche nach einem der rund 250 Elche, die hier leben. »Das sind zu viele für den Park«, seufzt die junge Parkangestellte. »Sie haben schon einen Teil des 400 Quadratkilometer großen Waldgebietes in Grasland verwandelt.« Plötzlich kracht es im Dickicht, schwere Schritte sind zu hören, hektisches Getrappel. Dann wieder Stille. Elche sind scheu! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie in Neufundland ausgewildert und haben sich seitdem zu einer echten Plage entwickelt, erklärt Tilly: »Der Wolf als einziger natürlicher Feind ist seit 1932 ausgestorben.« Der Park muss deshalb zu unpopulären Maßnahmen greifen: Einmal im Jahr dezimieren Jäger die Population.
Hunderte Eisberge vor der Küste
Die höchste Elchdichte Kanadas, mit die größten Karibuherden der Welt – und die angeblich dichteste Konzentration an Buckelwalen weltweit: Neufundland zählt zwar nur knapp 30 Säugetierarten, darunter jedoch einige der beeindruckendsten. Nur ein Naturspektakel ist noch größer: Die Iceberg Alley, die frühsommerliche Drift Hunderter Eisberge vor den Küsten der Insel. Rund 40.000 Eisberge brechen jedes Jahr von den Gletschern Grönlands ab, gut ein Prozent davor trägt der Labradorstrom bis nach Neufundland – mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 700 Metern in der Stunde. Bootstouren zu den Kolossen starten im quirligen Fischerort Twillingate, rund drei Fahrstunden vom Terra Nova National Park entfernt. Dichter Nebel liegt über dem Hafen, kein Windhauch kräuselt das Wasser, als die »Iceberg Quest« ablegt. Hin und wieder flackern Sonnenstrahlen durch die düster drohenden Wolken. Mit jedem Kilometer wird die See rauer, der Wind schärfer. Stoisch steht der Kapitän im T-Shirt am Steuer, während sein Erster Maat Dillon Mahaney versucht, die irische Fiddle-Musik zu übertönen, die aus den Lautsprechern schallt. »Ihr habt Glück« ruft er plötzlich und deutet in eine Bucht, wo ein Eisberg von der Größe eines Einfamilienhauses dümpelt. Vermutlich der letzte der Saison – es ist bereits Anfang August. Drei Kutter umkreisen den grauweißen Koloss. Zu nah sollte man jedoch nicht heranfahren, sagt Dillon. Eisberge können plötzlich umkippen und Boote in ihrem Sog zum Kentern bringen: »Die Titanic sank einst nur rund 500 Kilometer entfernt von hier.«
Berge, Wasserfälle und Blumenwiesen
Weiter Richtung Westen! Rund zwei Stunden vor dem Golf von St. Lorenz verändert die Landschaft wieder ihr Gesicht, aus Hügeln werden Berge. »Cabins! Cottages! Adventure! «, ruft es von den Schildern am Highway 340 hinter Deer Lake. Entlang der Küste erstreckt sich der Gros Morne National Park mit zwei ganz unterschiedlichen Landschaften: auf der einen Seite das Bergmassiv der Long Range Mountains mit Süßwasserfjorden und dem höchsten Wasserfall im Osten Nordamerikas, später die Küste mit langen Stränden, Kliffs und Feuchtgebieten. Unter Geologen ist der Gros Morne National Park legendär, weil man hier das Gestein des Erdmantels sehen kann – die UNESCO erklärte den Park aufgrund dieses Phänomens zum Weltnaturerbe. Ein Wahrzeichen – und einer der besten Spots für Fotografen – liegt eine Bootsfahrt und rund fünf Wanderstunden von der Zivilisation entfernt: Der Fjord des Western Brook Pond ist an Dramatik kaum zu überbieten. Clem Reid, ein kerniger Outdoor-Fan, führt über einen steilen Urwaldpfad zu diesem Aussichtspunkt. Der 52-Jährige sattelte für diesen Job um: »Früher saß ich in einer kleinen Schachtel im Großraumbüro, das war nicht auszuhalten.« Durch eine Wiese mit mannshohen Blumen, in der im Morgengrauen noch die Elche gegrast haben müssen, kämpfen wir uns durch dichten Wald, umschwirrt von Black Flies, aggressiven kleinen Kriebelmücken. Erst oberhalb der Baumgrenze, im tosenden Wind, verschwinden die Biester. Der Blick von der Felskante entschädigt großzügig für die Strapazen: ein tiefer Canyon mit senkrechten Felswänden, von denen Wasserfälle tosen, in der Ferne die schimmernde Fläche des Fjords. Neben einem Wasserfall sinken wir ins Gras und packen unsere Schätze aus: ein deftiges Picknick – diesmal ganz ohne Mundräuber.
Wanderung über den Skerwink Trail
Für passionierte Wanderer ist Neufundland ein Paradies, die Provinz zählt mehr als 200 Wanderwege. Die größten Reviere liegen im Terra Nova und im Gros Morne National Park. Der East Coast Trail (www.eastcoasttrail.ca) führt über 275 Kilometer an der Ostküste entlang. Der Skerwink Trail ist ein Wanderweg, der sich für jedermann anbietet. Der gut fünf Kilometer lange Pfad rund um eine Halbinsel nahe dem historischen Fischerort Trinity wird regelmäßig zu den schönsten in Kanada gewählt. Er schlängelt sich über der Steilküste vorbei an flechtenbehangenen Bäumen und über Teppiche aus Krähen- und Blaubeeren, erlaubt Blicke auf kleine Strände und steinerne Nadeln und bietet mehrere Rastplätze auf Blumenwiesen, von denen aus man Ende Juni und Anfang Juli Buckel- und Minkwale beobachten kann. Auch Birdwatcher finden hier viele seltene Arten. Im letzten Abschnitt sieht man in der Ferne den Leuchtturm und die Kirchen von Trinity – eine »Skyline«, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat. Infos: www.theskerwinktrail.com
Autor: Oliver Gerhard(3/2015)