fbpx
Menschen feiern, während sie für den Eintritt in die Viaduct Bar in Leeds Schlange stehen, nachdem die letzten gesetzlichen Coronavirus-Beschränkungen in England um Mitternacht aufgehoben wurden.

Menschen feiern, während sie für den Eintritt in die Viaduct Bar in Leeds Schlange stehen, nachdem die letzten gesetzlichen Coronavirus-Beschränkungen in England um Mitternacht aufgehoben wurden. Foto: Ioannis Alexopoulos/PA/dpa

England nach dem «Freedom Day» Ein Land zwischen Freiheit und Chaos

Was passiert, wenn sich ein hochansteckendes Virus in einem Land verbreitet und nicht mehr versucht wird, es aufzuhalten? England probiert gerade genau das aus und feiert seine neue Freiheit.

Das Experiment läuft. Nacht für Nacht wummern in den englischen Clubs die Bässe, auf Straßen und an den Stränden tummeln sich in der Sommerhitze die Menschen in großen Trauben, dicht an dicht.

Selbst in der Londoner Hauptstadtblase aus Politik und Medien treffen sich die Leute wieder auf Partys. Nach der Aufhebung fast aller Corona-Regeln am Montag erlebt England seine erste Woche in Freiheit - und ein Fest für den Feind namens Delta.

«Wann, wenn nicht jetzt?»

Dass die hochansteckende Variante des Coronavirus die Infektionszahlen weiter in die Höhe schnellen lässt, wird so weit wie möglich ausgeblendet. «Wann, wenn nicht jetzt?», ist Premier Boris Johnsons neue Freiheitsparole. Der Schutz der Impfungen werde das Schlimmste schon verhindern. Dass die Sieben-Tage-Inzidenz in Großbritannien zuletzt auf 488 (Stand: 17. Juli) kletterte und Experten Tag für Tag trotz hoher Impfquote vor zahlreichen Todesopfern, Millionen Menschen mit Langzeitschäden und gefährlichen neuen Mutationen warnen - geschenkt.

«Wir waren so lange im Lockdown. Lasst es uns jetzt versuchen», sagt der Rentner Alan Adams, der an einem sonnigen Nachmittag mit einem alten Schulfreund durch die Brick Lane im Londoner Osten spaziert. «Wir hatten zwei Injektionen. Also sollten wir okay sein», meint er. Sein Freund David Conlon ist nicht ganz so überzeugt: «Das hoffen wir zumindest», wirft er ein - und ärgert sich, dass in der Londoner U-Bahn so viele keine Maske mehr tragen. Da dort Bürgermeister Sadiq Khan und nicht Boris Johnson das Sagen hat, ist die «Tube» eigentlich einer der wenigen Orte, an dem die Maske weiterhin Pflicht ist - doch daran halten sich längst nicht alle. «Mir gegenüber hat ein Mann ohne Maske angefangen zu husten wie ein Hund», erzählt Conlon. «Ich bin an der nächsten Haltestelle ausgestiegen und in einen anderen Wagen gegangen.»

So schlägt in England die Stunde der Eigenverantwortung. Wo vor wenigen Tagen noch gesetzliche Regeln das Zusammenleben steuerten, muss jetzt jeder Einzelne entscheiden, wie viel Risiko er oder sie eingehen will - und das eben meist nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. «Es ist ein bisschen unverantwortlich», meint die 16-jährige Emily O'Dell zu den Lockerungen. Als Noch-Nicht-Volljährige ist für sie keine Corona-Impfung vorgesehen, obwohl sie sich, wie sie sagt, damit deutlich wohler fühlen würde.

Ironie des Schicksals - Boris Johnson in Quarantäne

Dass das Konzept der großen englischen Freiheit inmitten einer heftigen dritten Welle nicht so recht aufgehen will, zeigte sich bereits am ersten Tag: Nach einer Sitzung mit seinem infizierten Gesundheitsminister sprach Boris Johnson am großen «Freedom Day» per Videoschalte aus der Quarantäne zu seinem Volk.

Mit diesem Schicksal ist er bei weitem nicht allein. Geschätzt müssen sich rund 1,7 Millionen Briten derzeit selbst isolieren, weil sie an Covid-19 erkrankt sind oder Kontakt zu Infizierten hatten. Dazu gehören mit dem Gesundheitsminister Sajid Javid und Finanzminister Rishi Sunak nicht nur weitere prominente Vertreter der Regierungsbank, sondern auch große Teile der Belegschaften von Supermärkten, Logistikfirmen, Pflegeeinrichtungen oder Müllabfuhren - also allen, die das Leben eigentlich am Laufen halten sollten.

Während die Diskussion darüber, wer wann unter welchen Bedingungen in Quarantäne gehen muss, auf Hochtouren läuft, zeigt sich an allen Ecken und Enden, was es eigentlich bedeutet, wenn das Virus so viele in die eigenen vier Wände zwingt. Supermarktregale leeren sich und können nicht schnell genug wieder aufgefüllt werden. Mülltonnen bleiben voll vor der Tür stehen. Pubs müssen wieder schließen, weil niemand mehr hinter dem Zapfhahn steht. Ein hochansteckendes Virus durch das Land rauschen zu lassen und gleichzeitig so zu leben, als wäre nichts, das scheint allein schon aus logistischen Gründen fast unmöglich - wie sich bereits in den ersten Tagen des Großexperiments zeigt. Eiligst führte die Regierung daher zu Ende der Woche eine Ausnahmeregelung für Mitarbeiter im Lebensmittelhandel ein. Doch es gibt Zweifel daran, ob das ausreichen wird, die Engpässe zu vermeiden.

Wird es also ein «Sommer des Chaos» für England, wie Oppositionsführer Keir Starmer vor kurzem warnte? Oder doch noch ein «Great British Summer», wie ihn die regierenden Tory-Minister gern beschwören? In diesen heißen Juli-Tagen scheint beides fast parallel zu existieren. Die 26-jährige Kelsey, die mit einer Freundin über einen Londoner Street-Food-Markt schlendert, macht sich bislang noch keine Sorgen - obwohl sie im Krankenhaus arbeitet und die Zahl der Fälle wieder steigt. «Vielleicht muss man der Realität in ein, zwei Wochen wieder ins Auge sehen. Aber jetzt noch nicht.»

Copyright 2021, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten